Was ist der Mensch?

Einleitung des Buches Anatomie der Seele (2002), gebundene Ausgabe des später erschienenen Taschenbuchs Das grosse Buch der Seele

Was ist der Mensch?


Jeder Mensch, der innerlich erwacht, wird eines Tages den Wunsch haben, bewusst zu leben. Er wird wissen wollen, was Sinn und Ziel seines Lebens sind, und fragen, wie er den Sinn seines Lebens erfüllen und seinem Ziel näher kommen kann.

Er kann allerdings die Fragen nur beantworten, wenn er weiß, wer er ist. Er muss eine Antwort auf die Frage finden: Was ist der Mensch?

Damit er eine Antwort finden kann, muss er sich genau kennenlernen. Er muss in sich dringen, sich „zergliedern“, um dann die einzelnen Teile als Glieder eines einheitlichen Ganzen zu erfassen.

Die Kunst der Zergliederung heißt auf Griechisch Anatomie. Sie bedeutet im heutigen Sprachgebrauch „die Wissenschaft von Bau und Lage der Körperteile und Organe von Lebewesen und Menschen“. (Lebewesen sind Pflanzen und Tiere.)

Lebewesen und Mensch bestehen jedoch nicht nur aus „Körper“. Streng genommen haben sie gar keinen Körper. Sie haben einen Leib. 

Der Körper ist unlebendig. Ist ein Körper lebendig, so heißt er „Leib“. – Es ist die Seele, die ihn lebendig macht.

 

Die Seele

Der Pathologe Virchow soll gesagt haben, er habe unzählige Menschen seziert, doch sei er dabei nie auf eine Seele gestoßen. – Hätte er einen Menschen und nicht bloß einen Leichnam zu sezieren versucht, hätte er die Existenz der Seele im Menschen feststellen können.

Die Seele reagiert. Auf das Seziermesser reagiert sie mit Schmerz. Um schmerzfrei zu bleiben, muss der Mensch vor einem operativen Eingriff narkotisiert oder anästhesiert werden.

Ein Leichnam ist ja kein Leib, ein Leichnam ist ein „toter“ Körper. Und auch diese Behauptung ist nur bedingt richtig. Es gibt in der Welt nichts, was nicht auf eine bestimmte Weise belebt wäre.

Der Leib jedoch trägt das Leben deutlich wahrnehmbar und stets erlebbar in sich. – Das Leben ist im Leib wahrnehmbar und erlebbar, weil die Seele, die ihn belebt, fähig ist, alles, was sich im Leib und was sich in ihr regt, und alles, was auf sie von außen her zukommt, wovon sie berührt wird, zu erleben.

Sie kann es erleben, weil sie Anteil am Geist hat. Es ist der Geist, der die Seele lebendig: beweglich und zur Aktivität fähig macht. Er ermöglicht damit Lebewesen und Menschen das Leben, und er ermöglicht ihnen, sinnvoll zu leben.

Soll der Mensch in seinem ganzen Wesen erfasst werden, so darf die Kunst der Zergliederung nicht an der Oberfläche: im Materiellen stecken bleiben. Sie muss sich vielmehr auf das tragende Element seines Wesens: auf die Seele richten. 

Eine Anatomie der Seele wird sich notwendigerweise auch auf die Analyse des Geistes erstrecken. Und erst von der Anatomie der Seele und einer Analyse des Geistes her wird es überhaupt möglich, auch das wahre Wesen des Leibes zu erkennen.

 

Das Wachstum der Seele

Der Geist belebt die Seele, und das Leben der Seele äußert sich in ihrem Wachstum. 

Die Seele ist wie eine Pflanze. Wie diese, entstand auch die Seele nicht in einem einzigen Augenblick aus dem „Nichts“. Sie ist allmählich gewachsen. Ihr Ursprung ist nicht das „Nichts“, ihr Ursprung liegt in Gott.

Die Seele hat ihren eigenen Lebensrhythmus und ihre eigenen Wachstumsgesetze. Sie ist ihnen unterworfen. Daher braucht ihr Wachstum Zeit. Und es kann nicht beschleunigt werden. Versucht man es zu beschleunigen, so verdorrt die Seele wie die Pflanze, die übermäßig gedüngt wird, oder sie wird krank wie das Kind, das überfordert wird. Die Seele braucht Pflege und vor allem Liebe, um gedeihen zu können. Auch hierin ist sie der Pflanze ähnlich.

Der Mensch wird in seinem Erdenleben ebenfalls nicht an einem einzigen Tag zu einem ausgewachsenen Menschen. Er benötigt dazu einen relativ langen biologischen Wachstumsprozess, der mindestens anderthalb Jahrzehnte dauert und den jeder, der nicht jung stirbt, durchzumachen hat.

Das Wachstum der Seele kann allerdings nicht in einem einzigen irdischen Leben vollendet werden. Ein Erdenleben ist nur ein winziger Ausschnitt aus der Gesamtentwicklung der Seele, und diese Entwicklung benötigt überaus viel Zeit.

Dies hat natürlich seine Gründe. Dem Menschen ermöglicht erst das Wachstum seiner Seele, innerlich zu reifen. Er soll ja nicht nur physisch und biologisch, sondern auch seelisch und geistig erwachsen werden.

Da die Seele nur langsam wächst, braucht der Mensch zum inneren: zum seelisch-geistigen Wachstum eine noch längere Zeitspanne. Er braucht dazu nicht nur mehrere, sondern unübersehbar viele Erdenleben. Seine innere Entwicklung umfasst einen äußerst langen Zeitraum: einen ganzen Äon – ein Weltalter.

Ein Äon ist das Zeitalter, das die Seele in menschlicher Gestalt durchzuleben hat. Es umfasst einige Hunderttausende von Inkarnationen.

Der innere Wachstumsprozess des Menschen ist seine äonische Entwicklung, die er abwechselnd in der übersinnlichen Welt – im Jenseits – und auf der Erde vollzieht, indem er sich immer wieder inkarniert: einen physischen Leib annimmt.

Nach Abschluss der äonischen Entwicklung wird der Mensch zu einem engelhaften Wesen. Auch danach entwickelt sich seine Seele weiter, allerdings auf „Hochschulniveau“: auf dem Plan Höherer Wesenheiten.

 

Das Ziel der Entwicklung

Es entsprang nicht irgendeiner Götterlaune, dass der Mensch in einen so groß angelegten Entwicklungsprozess gestellt wurde. Auch wurde der Mensch nicht aufgrund irgendwelcher Umstände oder Zufälle in das Leben „geworfen“. Er wurde mit Bedacht in die Welt gesetzt. Und als er in die Welt gesetzt wurde, war das Ziel seiner Entwicklung schon festgelegt.

Die Tatsache, dass die Entwicklung zielgerichtet ist, bedeutet indessen nicht, dass sie determiniert wäre. Sie ist nur in groben Zügen vorgezeichnet. Innerhalb der Gesamtentwicklung sind sowohl die Etappenziele als auch die dazu führenden Entwicklungswege für die einzelnen Seelengruppen unterschiedlich. Überdies besteht auf jeder Etappe ein ausreichend großer Spielraum für die individuelle Gangart in der Entwicklung jeder Einzelseele. Daher sind die Wege, die zum Ziel führen, im einzelnen verschieden.

Das Endziel der äonischen Entwicklung hingegen ist für alle Menschen dasselbe. Der Mensch soll nicht nur in seiner äußeren Gestalt und biologisch, sondern auch innerlich zu einem wahrhaftigen Menschen werden. Er ist dann ein wahrhaftiger Mensch, wenn er in seiner Gesinnung und seinem Verhalten im wahren Sinne menschlich ist. 

Menschlich – wahrhaftig menschlich – ist der Mensch erst, wenn er einerseits alles, was er vom Tier „geerbt“ hat, auf eine ihm würdige: humane Weise leben kann. Er soll jedoch nicht nur das Tier- und Triebhafte, sondern alles, was ihn rücksichtslos und selbstsüchtig macht, überwinden. Er soll darüber hinaus in seinem Denken und Handeln auch das Interesse von Mitmenschen und Mitseelen (Pflanzen und Tieren) wahrnehmen und wahren. Er soll sein Verhalten ausschließlich nach seinen Einsichten und nach den Gesetzen der echten Liebe ausrichten.

Menschsein im wahren Sinne bedeutet also nicht, die physische Gestalt eines Menschen zu haben, sondern viel mehr. Es bedeutet die Fähigkeit, die Kosmische Ordnung und mit ihr das Göttliche im irdischen Leben für alle spürbar werden zu lassen.

Das ist ein hohes Ideal, das der Mensch nur im Laufe einer langen inneren Entwicklung verwirklichen kann. Es ist ein Vorbild, dem er sich immer mehr anzunähern suchen muss.

Das Ziel der äonischen Entwicklung ist die – in diesem Sinne verstandene – Menschwerdung des Menschen.

 

Der Sinn der Entwicklung

Die Seele kann die Materie – den Körper – beseelen und das Leben leben und erleben, weil sie ein Funke aus Gott: ein Teilchen von Gottes Seele ist. Daher existiert alles durch die Seele, und daher kann alles nur durch die Seele erfahren werden. 

Jede Seele ist ein „Gedanke“ Gottes. Der Sinn der Entwicklung besteht für jede Seele darin, dass sie einen bestimmten „Gedanken“ Gottes in der irdischen Welt verwirklicht. 

Dies ist eine hochgesetzte Aufgabe. Damit der Mensch dieser Aufgabe entsprechen kann, muss er ausgerüstet sein.

Er ist es auch. Seine Seele verfügt über Gaben. Die Gaben sind in ihr am Anfang jedoch nur potentiell – im Keim – enthalten. Sie müssen im Laufe ihrer Entwicklung erst aktualisiert: herangebildet und entfaltet werden.

Die vollständige Aktualisierung sämtlicher Anlagen ist die eine grundlegende Aufgabe der Seele. Sie beginnt bereits in der vormenschlichen Phase ihrer Entwicklung.

Die andere grundlegende Aufgabe für jede Seele ist es, zu einer Einzelseele zu werden: sich zu individualisieren.

 

Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit

Die Gesamtheit der Anlagen bildet den Kern der Seele. Dieser ist zeitlos. Die Aktualisierung der Anlagen hingegen geschieht in einer zeitlichen Abfolge. – So ist die Seele zeitlos und zeitlich zugleich.

Zeitlos ist sie in ihrem Kern. Der Kern der Seele ist ein Teil von Gottes Seele, er ist das Göttliche in ihr. Und dieses ist überzeitlich.

Was in Gottes Seele enthalten ist, ist in jeder Seele enthalten. Es ist in ihr allerdings nur anlagemäßig enthalten. Volle – absolute – Realität besteht nur auf der Göttlichen Ebene. Was in der Einzelseele enthalten ist, muss erst entfaltet werden, damit es nicht nur auf der Göttlichen, sondern auch auf der irdischen und somit auf der menschlichen Ebene zur Wirklichkeit werden kann.

Zeitlich ist die Seele, weil sie ihre potentiellen Anlagen nur in der Zeit aktualisieren kann.

Die Seele weist demzufolge eine Doppelnatur auf: Sie hat eine statische und eine dynamische Struktur. Die statische Struktur ist die bleibende: der Grundplan, der zeitlos ist. In diesem sind alle Gaben potentiell enthalten, in ihm ist alles vorgezeichnet, was entwickelt werden muss. – Ihre dynamische Struktur hingegen gelangt erst in jenem großen Prozess zur Entfaltung, in welchem ihre Anlagen aktualisiert und entfaltet werden. In diesem Prozess vollzieht sich die Entwicklung der Seele. Und dieser Prozess ist an die Zeit gebunden. 

 

Das innere Wissen

Die erste Zielsetzung dieses Buches ist, dem Menschen, der sich kennenlernen will, weil er sich entwickeln möchte, zur Selbsterkenntnis zu verhelfen.

Um Selbsterkenntnis zu erlangen, muss man die richtige – hinreichend weite – Sicht haben. Der Mensch muss dann nicht nur wissen, dass er wiederholt und überaus häufig auf die Erde kommt, er muss auch wissen, dass er in einem groß angelegten Entwicklungsprozess steht.

Dieses Wissen: das Wissen um die wiederholten Erdenleben und das Wissen um die innere Entwicklung ist in der Seele eines jeden – wie ein verborgener Schatz – vorhanden. In ihm ist auch das Wissen um die Beschaffenheit des Kosmos und seine Gesetzmäßigkeit, das Wissen um Hintergründe des Lebens und des Schicksals und das Wissen um Gott enthalten. Es ist ein inneres Wissen, das dem Menschen üblicherweise nicht oder nicht in vollem Umfang zugänglich ist.

In extremen Situationen kann es in ihm jedoch aufsteigen: bei großen Erschütterungen, angesichts des Todes, in einem Gotteserlebnis und immer dann, wenn der Kern der Seele, in welchem dieses Wissen verborgen ist, aufbricht.

Das innere Wissen wird – im Laufe der inneren Entwicklung – einem jeden zugänglich. Ist der Mensch innerlich hinlänglich reif, so wird er immer bewusster aus seinem inneren Wissen schöpfen können. 

Mit dem Verstand freilich ist es nicht möglich, nach diesem verborgenen Schatz zu graben. Dafür ist die Herzensintelligenz zuständig. Rationale „Beweise“ und Erörterungen würden den Gehalt nur verflachen und die Wahrheit schal erscheinen lassen. Der Mensch muss in sich hineinfühlen, um dem Verborgenen auf die Spur zu kommen.

 

Die Sinnhaftigkeit des Seins

Zum inneren Wissen gehört auch das Wissen um die Sinnhaftigkeit des Seins.

In einer Welt, in welcher alles sinnvoll ist, gibt es keinen Zufall. Nicht, weil Gott alles von vornherein vorausbestimmen würde. Im Gegenteil: Er lässt für die Freiheit jedes Menschen hinreichend Spielraum. 

Doch Gott „würfelt nicht“, – wie Einstein schon sagte. Er sagte es im Hinblick auf die „Unschärferelation“. „Unschärfe“ bedeutet in der Quantentheorie die Ungewissheit über das Eintreten vorausgesagter Ereignisse. Es zeigt sich, dass im atomaren Bereich nicht alle Vorgänge vorauskalkulierbar sind. Insofern können sie als „zufällig“ gelten.

Sie sind jedoch nicht deswegen nicht voraussagbar, weil sie „zufällig“ wären, sondern weil der Mensch aus seiner „Froschperspektive“ keine ausreichende Übersicht hat, um Ereignisse vorauszusehen.

Gott ist allerdings kein Mensch. Aus seiner „Perspektive“ ist alles voraussehbar, ohne dass es festgelegt wäre. Je mehr der Mensch seine Sicht erweitert, umso klarer erkennt er, dass alles, was ihm früher als „Zufall“ erschien, nicht zufällig, sondern sorgfältig geplant war.

Er wird auch erkennen können, dass Vorkommnisse selbst im Materiellen nicht zufällig sind. Jedes Ereignis – ob materiell, ob seelisch, ob geistig – wird sich ihm als sinnvoll erweisen, sobald er erkennt, wie harmonisch die Welt aufgebaut ist. Denn in einer Welt, in welcher alles miteinander im Einklang steht, trägt jedes Geschehen dazu bei, dass die Schöpfung – und in ihr und mit ihr jede Seele – immer näher zu Gott gelangt.

Glauben an den harmonischen Aufbau der Welt, Glauben an die Sinnhaftigkeit des Lebens ist freilich eine Sache; konkret aufzuzeigen, dass alles Wesentliche, was den Menschen betrifft, in sinnvollem Bezug zueinander und in einer logisch aufgebauten Ordnung steht, ist eine andere. 

Das tiefere Anliegen dieses Buches – seine zweite Zielsetzung – ist gerade dies: aufzuzeigen, dass jedes Ereignis in sämtlichen Bereichen des Lebens sinnvoll ist. Das Buch erreicht sein Ziel, wenn Menschen der Sinn des Weltgeschehens klar wird, wenn sie also einsehen, dass alles, was in der Welt vor sich geht, auf die Vervollkommnung und Vollendung einer jeden Seele angelegt ist und dass hinter jedem Ereignis Gott steht, dessen Liebe alle Seelen unwiderstehlich an sich zieht.

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Der Autor schöpft wie alle, die um die Sinndeutung bemüht sind, aus seinem inneren Wissen. Alles, was in diesem Buch vorgelegt wird, beruht ausschließlich auf seiner eigenen Erfahrung, die er in der therapeutischen Arbeit mit Menschen oder durch innere Erkenntnisse erworben hat. Diese Erfahrung ermöglicht es auch ihm, sich dem inneren Wissen immer mehr zu öffnen.

Wie bei jeder geisteswissenschaftlichen Arbeit, ist es auch in dieser unvermeidlich, auf bestehenden Erkenntnissen aufzubauen und Ausdrücke, die anderswo bereits gebraucht worden sind, zu verwenden. Der Sinn solcher Ausdrucksformen wird hier jedoch durch Definition oder Umschreibung jeweils neu bestimmt.

In einer so komplexen Struktur wie derjenigen der Seele greift jeder Bereich, jede Funktionseinheit in die andere. Bei deren Schilderung ist es daher unvermeidbar, auf manche Fakten, die erst hinterher zur Erörterung gelangen, vorher schon hinzuweisen, und manches zu wiederholen.