Wie verhält sich der Mensch auf der ersten Entwicklungsstufe?

Auszug aus dem Buch Betrachte Dich mit den Augen der Liebe:

Der Mensch ist auf der ersten Stufe innerlich vergleichsweise noch ein Säugling, und dies bedeutet, dass sein seelischer und geistiger Aktionsradius noch beschränkt ist. Er könnte eine Erweiterung seines emotionalen und seines Verstandeshorizontes noch gar nicht verkraften. Er muss all das, was er nicht begreifen, nachfühlen oder erfassen kann, ausklammern.

Er kann noch nicht offen sein und nicht alles aufnehmen, was ihm begegnet. Und er kann noch nicht unterscheiden. Er braucht klare Gegensätze wie „wir“ und „Außenstehende“, „unser“ und „Fremdes“, sowie Verhaltensnormen, die vorschreiben: „erlaubt“ und „verboten“, „gut“ und „strafbar“.

Das paradiesische Leben

Der Mensch als Säugling kann nur am Leben bleiben, wenn er beinahe in jeder Hinsicht versorgt wird. Er lebt also gewissermaßen noch im Paradies. Paradiesisch ist sein Leben vor allem deshalb, weil er noch keine Verantwortung zu tragen hat. Der Mensch muss natürlich auch auf den unteren Entwicklungsstufen seinen Beitrag zum Leben der Gemeinschaft leisten, falls nötig, arbeitet er, aber er braucht nicht darüber nachzudenken, was er tun soll, denn dies bestimmt die Gemeinschaft. Und er trägt keine Verantwortung für das, was er tut, denn er tut nur das, was in seiner Gemeinschaft selbstverständlich ist oder was ihm aufgetragen wird. Er trägt aber die Verantwortung dafür, wie er seine Aufgaben erfüllt, und mit zunehmendem innerem Alter übernimmt er in diesem Bereich immer mehr Verantwortung.

Der Einzelne fragt auch nicht: Warum? Er ist ja geistig noch nicht in der Lage, nach den tieferen Zusammenhängen zu fragen, geschweige das Geschehen zu hinterfragen. Es genügt ihm, etwas zu tun, wenn die Gemeinschaft es ihm aufträgt oder wenn es von ihm erwartet wird. Er gehorcht auch seinem Auftraggeber, und wenn er es genau so erledigt, wie dieser es wünscht, so ist er mit sich zufrieden, ja glücklich. Die Anerkennung der anderen ist lebensnotwendig für ihn.

Der wesentliche Unterschied ist natürlich, dass er zu Beginn seiner inneren Entwicklung noch weitgehend gefühlsdumpf und unbewusst ist. Aber nach dem Reifeprozess erlebt er die Harmonie mit allem, ist eins mit der Natur und deren Betreuern, mit Erde und Himmel und ist in völliger Eintracht mit dem Sichtbaren und dem – früher noch – Unsichtbaren. Er erlebt die Einheit mit allen Seelen und mit Gott vollständig bewusst und bei voll entfalteter Gefühls-, Einsichts- und Liebesfähigkeit.

Die Harmonie, die dem Menschen auf der Vorstufe und der ersten Entwicklungsstufe gewissermaßen bloß widerfährt, wird auf den höchsten Entwicklungsstufen von ihm bewusst angestrebt und weitgehend mitgestaltet. Er wird also zunehmend schöpferisch selber tätig.

Die Identifikation mit der Gemeinschaft

Am Anfang der ersten Entwicklungsstufe identifiziert sich der Mensch mit der Gemeinschaft so weitgehend, dass er streng genommen nicht sein eigenes Leben lebt, sondern es ist die Gemeinschaft, die in ihm lebt, wobei sich die Gemeinschaft durch ihn, durch das Individuum, auslebt. Er lebt ja nur das, was seine Gemeinschaft ihm auferlegt, und er lebt nur auf jene Weise, wie sie es von ihm erwartet, oder genauer, wie sie es ihm ermöglicht, da er im Gefühl der totalen Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft lebt.

Dies ist die praktische Folge der participation mystique, der vollständigen, aber unbewussten Teilhabe der Einzelseele an der Gemeinschaftsseele. Eine gewisse Ähnlichkeit hat diese Beziehung zwischen der Einzel- und der Gruppenseele mit der Situation mancher Tierarten, die in Gemeinschaft leben, zum Beispiel bei Insektenschwärmen, Bienen oder Ameisen. Auch da lebt in den einzelnen Tieren die Gemeinschaftsseele der Population und lebt sich durch diese aus. Dadurch ermöglicht sie den Einzeltieren eine zwar individuelle, jedoch dem Schema angepasste und demzufolge sinnvolle Tätigkeit.

Die Hörigkeit

Die vorbehaltlose Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft ist die Grundlage auch für die Hörigkeit, die den Menschen an die Gemeinschaft, meistens vor allem an deren Anführer, bindet und ihn von diesem vollständig abhängig macht. Die oft absolute, bis zur blinden Ergebenheit reichende Hörigkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft und deren Anführer gegenüber, rührt bei vielen Gruppen bereits von der Vorstufe, häufig von noch früher, von den höheren Artstufen, her.